Was eine der Erstsiedlerinnen von Montreal und ich gemeinsam haben

Letztes Update erfolgte am 19. Juli 2023. Heute bin ich zufällig über den Taufschein von Marie Lorgueil gestolpert. Sie wurde am 15. Juni 1634 in Bordeaux geboren. Ihren Taufeintrag hat Gilles Brassard gefunden. (Nein, nicht der berühmte Quantenphysiker, sondern ein anderer Quebecer, der der Liebe wegen in Paris lebt.)

Als Montreal 50 Einwohner hatte und noch Festung Ville-Marie hieß, schien die heutige Millionenstadt ihrem Untergang geweiht zu sein. Die Überfälle der Irokesen dezimierten die französischen Siedler an der kanadischen Küste stetig und so sah ihr Gouverneur Paul Chomedey de Maisonneuve keinen anderen Ausweg als nach Frankreich zu segeln und zu versprechen mit mindestens 100 Männern zurückzukommen.

Sein eingehaltenes Versprechen ging als Kapitel “La Grande Recrue” in die französisch-kanadische Geschichte ein, als sein Schiff 1653 mit neuen Kolonisten zurückkehrte und fortan erfolgreich für den Fortbestand der Siedlung gesorgt wurde. Neben 94 Männern im Altersdurchschnitt von 24 Jahren kamen damals nämlich auch 14 junge Frauen nach Neu-Frankreich. Und mit einer von ihnen, der damals 16-jährigen Marie Lorgueil, bin ich entfernt verwandt…

Ja-a, ich war auch überrascht, als ich vor wenigen Tagen von meiner ganz persönlichen (wenn auch sehr entfernten) Verbindung zu den ersten Franko-Kanadiern erfuhr. Aber alles der Reihe nach.

Obwohl ich autosomale DNA-Tests allen anderen Tests vorziehe (weil mein Interesse in erster Linie den verwandtschaftlichen Beziehungen der letzten 200 Jahre gilt) konnte ich diesen Sommer dem Sonderangebot von FTDNA nicht widerstehen und habe meine mitochondriale DNA vollständig sequenzieren lassen. Durch 23andme und LivingDNA wusste ich bereits, dass ich der Haplogruppe T1 angehöre. Für weitere und genauere Informationen, sowie eine Liste mit DNA-Treffern der rein mütterlichen Linie, muss man jedoch einen mtDNA-Test von FTDNA machen.

Die mitochondriale DNA vollständig sequenzieren zu lassen, bedeutet alle 16569 Basenpaare zu entschlüsseln und auf Übereinstimmungen mit anderen Personen in der Datenbank zu prüfen. Die mitochondriale DNA, kurz mtDNA, macht nur etwa ein Prozent der gesamten DNA aus und wird seit Tausenden von Jahren von der Mutter an ihre Kinder vererbt, jedoch nur von den Töchtern an die nächste Generation weitergegeben.

Hin und wieder – dieser Ausdruck kann eine Spanne von Hunderten oder Tausenden von Jahren umfassen – entsteht bei der Replikation der DNA eine Mutation, was nichts anderes ist als ein Kopierfehler, der nun an die folgenden Generationen weitergegeben wird. Wenn zwei beliebige Menschen miteinander verglichen werden, deutet eine geringere Anzahl von Mutationen in ihrer mtDNA auf eine nähere Verwandtschaft hin. Da die Mutationen äußerst selten auftreten, kann auf diese Weise sehr viel weiter zurück in die Vergangenheit geblickt werden als mit autosomaler DNA.

Durch die spezifischen Mutationen in ihrer mtDNA können alle Menschen unterschiedlichen mitochondrialen Haplogruppen zugeordnet werden und da einige der Haplogruppen älter sind als andere, entsteht eine Art Stammbaum mit vielen Ästen, die alle zu der Urmutter aller heute lebenden Menschen führen – der mitochondrialen Eva. Manche Haplogruppen sind typisch für bestimmte Regionen, woraus sich Rückschlüsse in Bezug auf die Völkerwanderungen ziehen lassen.

Für nahe Verwandtschaftsbestimmungen eignet sich die mtDNA nicht, denn selbst zwei Personen mit einer exakten mtDNA-Übereinstimmung können eine gemeinsame Urmutter im Mittelalter haben. Da eine Mutation aber jeder Zeit auftreten kann, kommt es andererseits gelegentlich vor, dass die mtDNA von nahen Verwandten wie Mutter/Kind oder Geschwistern nicht hundertprozentig übereinstimmt. (Der bekannteste Fall ist wohl der von Blaine Bettinger, der nicht zu den mtDNA-Treffern seiner eigenen Mutter gehört.)

Durch die genauere Analyse der mitochondrialen DNA bei FTDNA erfährt man neben der eigenen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Haplogruppe auch die Namen der Personen in der Datenbank mit derselben rein mütterlichen Linie. Da es auch innerhalb einer Haplogruppe Unterschiede gibt, werden die DNA-Treffer in “genetischen Distanzen” angegeben. Eine genetische Distanz mit Wert 1 bedeutet, dass die mtDNA zweier Personen sich durch eine einzige Mutation in den 16569 Basenpaaren unterscheidet. Treffer mit einer genetischen Distanz mit Wert 4 und mehr werden in der Datenbank nicht angezeigt.

Meine direkte mütterliche Linie konnte ich dank Kirchenbüchern und Volkszählungen bis zu einer der Erstsiedlerinnen an der Wolga zurückverfolgen – meiner 1735 geborenen Ur-ur-ur-ur-ur-urgroßmutter Katharina Neckermann aus Mainz. Ihre Linie in Deutschland fortzusetzen war bisher leider nicht möglich, im Moment gibt es lediglich eine Spur nach Königshofen.

Anfang Oktober erhielt ich endlich meine mtDNA-Ergebnisse von FTDNA und erfuhr, dass ich der T1a-Haplogruppe angehöre, einer Untergruppe von T1.

Und das sind meine Treffer in der Datenbank:

Als erstes fiel mir auf, dass es sich bei den Vorfahrinnen der direkten mütterlichen Linie meiner “nächsten” Treffer allesamt um Französinnen handelte. Und als zweites, dass zwei der Treffer, Michel und Daniel, ihre mütterlichen Linien scheinbar zur selben Frau bzw. selben Familie zurückverfolgen konnten. Nachdem ich ihre Stammbäume verglichen habe, stellte ich erstaunt fest, dass Michel und Daniel Cousins 9. Grades waren! Es war also sehr wahrscheinlich, dass sie sich vorher nicht kannten und ihre Stammbäume unabhängig voneinander erstellten. Und der DNA-Test hat ihre Nachforschungen auf eine wundersame Weise bestätigt!

Meine Neugier war geweckt und ich schaute mir auch die Stammbäume von Martha, Carole und Robert an (er hatte versehentlich nicht seine früheste Vorfahrin auf der mütterlichen Linie, sondern den frühesten Vorfahren überhaupt eingetragen). Die weibliche Linie von Martha hörte in ihrem Stammbaum bei Marie Rosalie Poirier, geb. 1810, auf. Bei Carole stand kein Name in der Übersicht, mit ihrem Profil war aber eine Ahnentafel verlinkt. Ihre direkte mütterliche Linie hat sie bis zur Jeanne Voisy, geb. 1612, verfolgen können. Mit ein wenig Eigenrecherche in den Datenbanken von Ancestry schaffte ich es die Linien von Martha und Robert ebenfalls weiter auszubauen und kam zu einem sehr interessanten Ergebnis:

Die direkten weiblichen Vorfahrinnen von vier meiner Treffer gehen auf ein und dieselbe Frau zurück – die 1604 in Frankreich geborene Marie Bruyère dit Brière. Besonders interessant fand ich die Quellenangabe zu ihrer Tochter Marie Lorgueil, in der etwas von “La Grande Recrue” stand. Nach ein paar Klicks bei Google fand ich mich plötzlich inmitten kanadischer Gründungsgeschichte wieder. Marie Lorgueil war eine der wenigen ersten Frauen, die Frankreich für ein neues Leben in Kanada verließ und dadurch zur Stammmutter zigtausender frankophoner Kanadier wurde, zu denen auch mindestens vier meiner mtDNA-Treffer gehören. Faszinierend!

Und was ist mit Carole und mir? Unsere Linien sind keinesfalls falsch, wir beide stammen zwar nicht von Marie Lorgueil ab wie die anderen, haben aber eine gemeinsame Vorfahrin mit ihr, die einfach nur weiter zurück zu suchen ist. Mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit in Frankreich. Mit ziemlich großer Sicherheit vor mehr als 400 Jahren.

Die Tatsache, dass vier Nachkommen von drei verschiedenen Töchtern Marie Lorgueils genetisch übereinstimmen, ist ein sehr starker Beweis für die Richtigkeit der Papierforschung. Da es sich bei den Testpersonen um weit entfernte Cousins handelt, hätte ein autosomaler Test in diesem Fall nichts genutzt. Es hätte höchstens eine kleine autosomale Übereinstimmung bei Robert und Daniel geben können, aber nicht mit den anderen.

Hierin liegt nämlich der größte Nutzen eines mtDNA-Tests für Genealogen – Theorien über eine weiter zurückliegende Verwandtschaft in der direkten mütterlichen Linie zu bestätigen oder zu verwerfen. Um zum Beispiel meine Abstammung von Katharina Neckermann zu bestätigen, muss ich für einen mtDNA-Test jemanden finden, der von ihrer anderen Tochter, Elisabeth Ruckmesser, abstammt.

Bei historischen Persönlichkeiten wird das schon lange gemacht. Philip Mountbatten, der Gemahl der englischen Königin Elisabeth II, war eine Schlüsselfigur in der Identifizierung der 1997 gefundenen sterblichen Überreste der russischen Zarenfamilie. Zarin Alexandra war nämlich die Schwester seiner Großmutter mütterlicherseits, Viktoria von Hessen-Darmstadt. (Die Großmutter mütterlicherseits der beiden wiederum war keine andere als Queen Victoria.) Auch die 2012 unter einem Parkplatz in Leicester gefundenen Gebeine von Richard III (1452-1485) konnten durch einen mtDNA-Test der lebenden Verwandten, Nachkommen seiner Schwester Anne of York, identifiziert werden.

Auch Geschichte an sich kann durch einen mtDNA-Test (das gleiche gilt auch für einen Y-DNA-Test) auf eine gewisse Weise personalisiert werden. Im Geschichtsunterricht lernen wir die Namen vieler bedeutender Persönlichkeiten kennen, ohne jemals darüber nachzudenken, dass es sich bei diesen Menschen auch um unsere weit entfernte Verwandte oder Vorfahren handeln könnte. Der Mathematiker Joseph Chang stellte 1999 eine Rechnung auf, laut welcher jeder heute lebender Europäer, einen gemeinsamen Vorfahren hat, der um 1400 lebte. Denn je weiter zurück wir in unserem Stammbaum gehen, haben wir nicht mehr Vorfahren durch Verdopplung in jeder Generation. Ab einem gewissen Zeitpunkt werden die Vorfahren wieder weniger, denn einige Personen kommen früher oder später mehrfach im Stammbaum vor – weil früher weniger Menschen lebten als heute.

Die Frage lautet somit nicht, ob du mit einer bedeutenden Persönlichkeit aus der Geschichte verwandt bist, sondern mit wem – Petrarca, Marie Antoinette oder Abraham Lincoln? Ihre mtDNA-Haplogruppen und die vieler anderer berühmter Namen sind heute bekannt. Wie wärs mit einem DNA-Test?