Am Sonntag hat mir die DNA-Genealogie ein unglaubliches Erfolgserlebnis beschert! Und was hätte ich nicht alles dafür gegeben, dieses mit meinem Großvater zu teilen! Doch zu seinen Lebzeiten wagte man an das, was heute möglich ist, nicht einmal zu denken. Anhand meines persönlichen Beispiels möchte ich nicht nur zeigen, wie wertvoll die DNA-Genealogie als Ergänzung zur klassischen Ahnenforschung sein kann, sondern dass diese beiden Hilfswissenschaften untrennbar zusammengehören.
Viktor Haas, mein Großvater mütterlicherseits, kam als kleiner Junge nach dem Tod seiner Eltern in ein Waisenhaus und wuchs ohne Kontakt zu seinen biologischen Verwandten auf. Man habe ihm erzählt, dass diese ein paar Jahre zuvor nach Kanada und die USA ausgewandert seien. Unter ihnen soll sich auch eine Tante meines Opas mit zwei Kindern befunden haben – das war aber auch schon alles an Informationen. Mein Großvater hat zeit seines Lebens immer wieder nach ihr und den anderen Verwandten gesucht, doch seine Bemühungen blieben erfolglos. Seit Sonntag – fast 108 Jahre nach ihrer Auswanderung – weiß ich, was mit seiner Tante damals geschehen war, kenne jetzt die Namen ihrer Nachkommen und den Ort, wo sich die Familie in den USA damals niedergelassen hatte!
Als ich vor fünf Jahren mit der Ahnenforschung begann, konnte ich nur das Patronym meines Großvaters und sein Geburtsjahr 1913 als zusätzliche Informationen nutzen. Sein Vater hieß demnach David Haas und war vermutlich um 1890 geboren. Zur selben Zeit machte ich meinen ersten DNA-Test und stellte überrascht fest, dass ich mehrere hundert Verwandte in der DNA-Datenbank hatte, die überwiegend in den USA und Kanada lebten. Sie waren zwar allesamt entfernt verwandt, doch einige von ihnen lieferten mir dennoch erste Hinweise zum Geburtsort meines Großvaters, welcher kurze Zeit später als Schöndorf an der Wolga bestätigt werden konnte. In der Zeit darauf vertiefte ich mich weiter in die DNA-Genealogie und machte auch in der klassischen Papierforschung Fortschritte, in erster Linie jedoch auf der Seite meiner Großmutter mütterlicherseits.
Im Mai 2018 reiste ich in die beiden Archive in Engels und Saratov an der Wolga, in denen sich zahlreiche Originaldokumente aus den wolgadeutschen Kolonien erhalten haben. Laut der Volkszählung für das Jahr 1897 gab es in Schöndorf nur einen David Haas und seine Familie setzte sich folgendermaßen zusammen:
Peter (Sohn von Philipp) Haas, 38 Jahre alt, Familienoberhaupt
Margaretha (Tochter von Georg), 34 Jahre alt, Ehefrau
Katharina (Tochter von Peter), 8 Jahre alt, Tochter
David (Sohn von Peter), 5 Jahre alt, Sohn
Peter (Sohn von Peter), 4 Monate alt, Sohn
Bei Peter und Margaretha handelte es sich somit um meine Ur-urgroßeltern und die Tante meines Großvaters, die damals ausgewandert sein soll, hieß wohl Katharina…
In einem wolgadeutschen Forum für Ahnenforschung http://forum.wolgadeutsche.net/ suchte ich etwa zur selben Zeit gezielt nach Personen mit dem Nachnamen Haas, die ihre Wurzeln in Schöndorf an der Wolga hatten. So kam ich in Kontakt mit A. Haas aus Bremen und O. Haas aus Chemnitz, die sich nach dem DNA-Test zwar nur als Cousins 3. Grades meiner Mutter und ihrer Geschwister herausstellten, ich sie aber dennoch dank den Volkszählungen den richtigen Familienlinien im Stammbaum zuordnen konnte. Unsere gemeinsamen Vorfahren waren meine Ur-ur-urgroßeltern Philipp Haas und Anna Margaretha Schlegel.
Vor einiger Zeit tauchte dann ein Herr Aul aus den USA unter den DNA-Treffern meiner Tante und mir bei Ancestry auf (meine Mutter und mein Onkel haben bei 23andme getestet). Mit meiner Tante teilte er 142cM identischer DNA und mit mir 85cM. Damit war er der bisher höchste unserer unbekannten Treffer. Wenn man sein Alter mitberücksichtigte, fiel er in die Kategorie Neffe 3. Grades für meine Tante und Cousin 3. Grades für mich (gemeinsame Ur-urgroßeltern).
Sein eingestellter Stammbaum war allerdings etwas spärlich:
Der Nachname Aul sagte mir auf den ersten Blick nichts, laut Stammbaum aber stammte sein Urgroßvater Heinrich Aul, geb. 1882, aus der Kolonie Krasnoyar an der Wolga. Ich recherchierte weiter auf der Find A Grave-Webseite und stellte fest, dass auch sein Großvater Victor Aul, geb. 1908, noch in Russland zur Welt kam. Dieser Victor heiratete später eine Frau mit dem irischen Nachnamen Walsh in den USA, weshalb die Verwandtschaft durch ihre Linie somit ausgeschlossen werden konnte. Es blieb also noch die mütterliche Linie des DNA-Treffers, zu der es aber leider gar keine Angaben gab.
Ich schickte unserem DNA-Treffer eine Nachricht, in der ich unsere Familiengeschichte kurz schilderte, doch diese blieb unbeantwortet. Also versuchte ich auf einem anderen Weg mehr über diesen mysteriösen Herrn Aul herauszufinden, indem ich ihn mit anderen Personen aus der Ancestry-Datenbank verglich. Mithilfe der Shared Matches-Funktion stellte ich fest, dass es nur sehr wenige gemeinsame DNA-Treffer mit Herrn Aul gab – unter den wenigen befanden sich aber die beiden entfernten Haas Cousins aus Bremen und Chemnitz. Mit unseren anderen höheren DNA-Matches, die ich zuvor schon mithilfe von Visual Phasing und der Besonderheit der X-chromosomalen Vererbung der Linie meiner Urgroßmutter Sophia (der Ehefrau von David Haas) zugeordnet hatte, gab es dagegen keine DNA-Übereinstimmungen (um bei den Shared Matches angezeigt zu werden, müssen die Personen in der Datenbank mindestens 20cM mit uns und dem Treffer teilen).
Da ich zudem Zugriff auf die Profile der entfernten Haas Cousins habe, konnte ich sehen, dass die beiden etwas weiter entfernt mit Herrn Aul verwandt waren als meine Tante. Die beiden teilten jeweils 70cM mit ihm und meine Tante bekanntlich 142cM. Der gemeinsame Vorfahre mit den entfernten Haas Cousins war mein Ur-ur-urgroßvater Philipp Haas, geb. 1818. Der gemeinsame Vorfahre mit Herrn Aul musste somit mein Ur-urgroßvater Peter Haas, geb. 1858, sein. Laut der Volkszählung 1897 hatten meine Ur-urgroßeltern Peter und Margaretha drei Kinder: Katharina, David und Peter. Laut der Volkszählung von 1920 blieb es auch bei den drei – dort waren noch David und Peter angegeben, aber keine jüngeren Geschwister der beiden. Somit musste Herr Aul laut den DNA-Ergebnissen entweder ein Urenkel von Davids Schwester Katharina, geb. 1888/89, oder Davids Bruder Peter, geb. 1896/97, sein.
Als mir das klar wurde, konnte ich kaum mehr stillsitzen. Daraufhin suchte ich auch auf Facebook nach Herrn Aul und wurde auch hier fündig. Auf seinem Profil war u.A. auch das Foto seiner Eltern in den jungen Jahren zu sehen. Bei seiner Mutter handelte es sich um eine wunderschöne Frau hispanoamerikanischer Herkunft. Das bedeutete, dass wir nicht durch sie mit ihm verwandt sein konnten. Auch nicht durch seine irische Großmutter väterlicherseits. Es musste die Aul-Linie seines Großvaters väterlicherseits sein! Und das wiederum bedeutete, dass Katharina Haas die Mutter seines Großvaters gewesen sein musste!
Die DNA besitzt eine unglaubliche Macht, aber sie allein reicht nicht aus – man braucht immer einen zweiten, unabhängigen Beweis. Obwohl Herr Aul nicht auf meine Nachricht geantwortet hatte, fiel mir dennoch ein, wo ich Hilfe bekommen könnte: Forum Wolgadeutsche! Es ist der Ort, wenn man seine wolgadeutschen Wurzeln erforschen möchte. Forumsmitglieder stellen hier Informationen zu ihren Vorfahren zusammen und es gibt inzwischen zahlreiche Threads zu einzelnen Familiennamen und Kolonien. Und so war ich gar nicht überrascht, dass dort auch ein Thread für Aul aus Krasnoyar existierte, wo ich dann mein Anliegen postete:
Übersetzt lautete es so:
“Unter meinen DNA-Treffern bei Ancestry befindet sich ein Herr Aul, dessen Großvater Victor Aul 1908 in Krasnoyar in die Familie von Heinrich (Sohn des Konrads) Aul, geb. 1882, geboren wurde und welche 1912 in die USA auswanderte. Herr Aul und meine Tante teilen sich 142cM (wir beide 85cM), was ihn zum Neffen 3. Grades meiner Tante und meinem Cousin 3. Grades macht. Von unserer Seite muss die Verbindung durch meinen Urgroßvater David Haas sein, welcher eine Schwester namens Katharina und einen Bruder namens Peter hatte. Wenn die Verwandtschaft über die väterliche Aul-Linie des DNA-Treffers besteht (zu seiner Mutter gab es keine Infos), muss sein Urgroßvater Heinrich Aul der Ehemann von Katharina Haas aus Schöndorf gewesen sein (der Schwester meines Urgroßvaters und der Tante meines Großvaters, die damals auswanderte). Gibt es hier jemanden der Zugriff auf die Familienbücher von Krasnoyar aus dieser Zeit hat und mir helfen kann, meine Theorie zu bestätigen? Vielen Dank im Voraus!”
Danach beschloss ich meine Suche in den Datenbanken von Ancestry fortzusetzen, da man dort u.A. auch Zugriff auf die US-Volkszählung von 1930 hat. Dort fand ich auch einen Heinrich/Henry Aul, der 1882 in Russland geboren war. Wie es aussah, war er jedoch mit einer Emilia verheiratet und nicht mit einer Katharina. Außerdem machte mich der Name einer seiner Töchter stutzig, die als “Badilja” angegeben war.
Auch in anderen Dokumenten aus dieser Zeit war Emilia/Amelia Rieb als seine Frau angegeben. Was für ein Rückschlag! Ich konnte es einfach nicht glauben, denn die DNA-Ergebnisse sagten eindeutig etwas anderes. Und dennoch musste ich mich jetzt mit dem abfinden, was meine Augen sahen. Total niedergeschmettert editierte ich meinen Post im Forum: “Update: Wir sind wohl doch nicht über seine väterliche Aul-Linie verwandt… Laut US-Volkszählung von 1930 war die Frau von Heinrich/Henry Aul Amelia Rieb und nicht Katharina Haas. Gab es Rieb-Familien in Krasnoyar?”
Als ich fertig war merkte ich, dass AndI, einer der Forumsmoderatoren (bei dem es sich, wie sich kurz darauf herausstellte, zufälligerweise um Andreas Idt, den Verfasser von “Auswanderung deutscher Kolonisten nach Russland im Jahre 1766” handelte!), mir auf meinen vorherigen Beitrag geantwortet hatte:
“Laut meinen Notizen waren die Eltern von Viktor Aul, geboren am 31.12.1908, Heinrich Aul, geboren am 09.04.1882, und Katharina Elisabeth Haas, geheiratet wurde 1908, eine Verbindung zu anderen Haas-Familien aus Krasnoyar konnte ich nicht herstellen. Vermutlich eben deshalb, weil sie aus Schöndorf war. Ich würde mich freuen Genaueres über ihre Linie zu erfahren. Laut meinen Notizen hatten Heinrich Aul und Katharina Haas noch eine Tochter Adele, geb. 1910.”
Also doch Katharina Elisabeth Haas! Was für eine dramatische Wendung! Was für ein Glück! Meine Theorie anhand der DNA-Ergebnisse war absolut korrekt und jetzt ergab alles einen Sinn! Bei Amelia Rieb musste es sich einfach um eine zweite Frau von Heinrich Aul gehandelt haben und da sie in den USA geheiratet haben müssen, würde ich das Schriftstück dazu schon finden! Und bei der 19-jährigen “Badilja” muss es sich in der Volkszählung von 1930 um Adele gehandelt haben! Vermutlich weil der Name damals auf die russische Weise als Adelja ausgesprochen wurde.
Andreas Idt hatte nur Aufzeichnungen, aber keine Kopien der Originalunterlagen, weil es sich bei dieser Aul-Haas-Familie nur um eine seiner Seitenlinien handelte (die Mutter von Heinrich Aul war eine geborene Idt). Ein anderes Forumsmitglied riet mir daraufhin sich per E-Mail an Prof. Dr. Igor Pleve zu wenden. Er habe Zugriff auf alle Familienbücher aus Krasnoyar und könnte mir eine eingescannte Kopie gegen eine Gebühr zukommen lassen.
Während ich auf Prof. Dr. Pleves Antwort wartete, durchforstete ich die Datenbank von Ancestry nach weiteren Dokumenten aus den USA. Man kann sich dort eine Kopie von den Passagierlisten, Einbürgerungsurkunden, Volkszählungen, Heirats-, Geburts-und Sterbeurkunden herunterladen und ich würde fast alles davon brauchen, um alle Puzzleteile zusammenzufügen.
Auf der Passagierliste der SS Merion von Liverpool nach Philadelphia fand ich einen Eintrag vom 11. Januar 1912 über Heinrich Aul (29), seine Frau Katarina (23) und die beiden Kinder Victor (3) und Adela (1):
Dann fand ich einen Eintrag über die Heirat von Heinrich Aul und Amelia Rieb im Jahr 1913. Katharina Elisabeth Haas muss noch vor ihrem 25. Geburtstag während ihres ersten Jahres in Chicago verstorben sein und zwei kleine Kinder hinterlassen haben.
Als nächstes fand ich zwei Einbürgerungsanträge von Henry Aul, in denen auch alle seine fünf Kinder aufgelistet wurden. Die drei jüngeren Mädchen waren von seiner zweiten Frau. In den Einbürgerungsanträgen war er als Witwer eingetragen und im ersten wurde seine Frau als “Elizabeth” angegeben, geboren am 31.Oktober 1888 in “Schondorf, Russia”!
Im zweiten hieß seine Frau Amelia:
Heute morgen kam auch die E-Mail von Prof. Dr. Pleve und rundete alles ab. Auf der linken Seite stehen die männlichen Einwohner von Krasnoyar, Heinrich (Sohn von Konrad) Aul und sein Sohn Viktor, auf der rechten Seite seine Ehefrau Katharina Elisabeth Haas und Tochter Adele:
So schön kann das Zusammenspiel von DNA-Genealogie und Papierforschung sein! Ohne einen DNA-Test wäre das nicht möglich gewesen. Ohne Archivdokumente auch nicht. Beides für sich allein hätte jedoch nicht ausgereicht!
Nachtrag: Die Daten in den Dokumenten weichen etwas voneinander ab (z.B. die Geburtsjahre der Kinder), wenn man aber alle Dokumente zusammen betrachtet, kann man dennoch erkennen, dass es sich um dieselbe Familie handelt. (Außerdem ist es ein gutes Beispiel dafür, dass Dokumente im Gegensatz zur DNA fehlerhaft sein können.)