WOLGADEUTSCHE WURZELN

Letztes Update erfolgte am 19.11.2024

Vor mehr als 250 Jahren kam Konrad Haas im Alter von sechs Jahren zusammen mit seiner Mutter Katharina, zwei Schwestern und Stiefvater Kaspar Weigand am 15. August 1767 in Norka an der Wolga an. Katharina und der sechs Jahre jüngere Kaspar hatten wohl erst kurz zuvor geheiratet, denn in den Passagierlisten wurde sie noch als Witwe geführt.

Zusammen mit sehr vielen anderen Familien aus Hessen hatten sie eine lange Reise hinter sich, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Russland, als die in dem damals vom siebenjährigen Krieg gebeutelten Europa.

Der Eintrag über die Familie Haas-Weigand in Prof. Dr. Igor Pleves vierbändigem Werk „Einwanderung in das Wolgagebiet 1764-1767“.

Als Kaspars Herkunftsort wird nur Isenburg angegeben, Katharina und die Kinder kamen jedoch aus Rinderbügen bei Büdingen. (Großes Dankeschön an Maggie Hein!)

Hier ist der Eintrag aus dem Taufregister Rinderbügens. Konrad war am 7. Mai 1762 geboren und zwei Tage später getauft. Sein Vater hieß Johann Jakob Haas.

Nach der Hochzeit mit Maria Elisabeth Wittig zog Konrad nach Pobochnoye/Nebendorf – in eine Kolonie, die ebenfalls von seinen Landsleuten aus Isenburg-Büdingen gegründet wurde. Dort wurde er zum Stammvater aller evangelisch-lutherischen Haas Nachkommen, einschließlich derjenigen in den späteren Tochterkolonien Schöndorf und Schönfeld.

Meine Linie zweigte sich 1857 von Pobochnoye ab, als Konrads Enkel Philipp Haas (geb. 1818) zusammen mit seiner Frau Anna Margaretha Schlegel, seinen Kindern, seinem Bruder Konrad und seiner Familie in die neu gegründete Kolonie Schöndorf umsiedelte.

Volkszählung Schöndorf vom 10.11.1857 (abrufbar bei familysearch.org).

Schöndorf 1857, die männlichen Siedler sind links aufgeführt und die weiblichen rechts. Der Haushalt 206 besteht aus zwei Brüdern und ihren Familien: Der ältere ist Philipp Haas (39) mit Ehefrau Anna Margaretha Schlegel (38) und den Kindern Konrad (16), Anna Elisabetha (14), Philipp (10), Heinrich (1850-1852), Georg (5) und Johannes (2). Der jüngere Konrad Haas (35) mit Ehefrau Katharina Elisabeth Beutel (38) und den Kindern Anna Elisabetha (14), Peter (12), Philipp (3) und Anna Margaretha (2 Monate). (Zwei Cousinen heißen gleich und sind gleich alt.)

Ende des 19. Jahrhunderts, als die von Katharina der Großen der deutschen Bevölkerung zugesicherten Privilegien von Alexander II wieder abgesprochen wurden, begann die Auswanderung nach Nordamerika, die bis etwa 1914 andauerte. Auch ein Teil der Haas Nachkommen ging damals nach Kanada (u.A. Wetaskiwin, Alberta) und in die USA (u.A. Longmont, Colorado).

Katharina Elisabeth Haas-Aul, die Tante meines Großvaters, der nach dem Tod seiner Eltern in einem Waisenhaus aufgewachsen war, wanderte mit ihrem Ehemann und zwei Kindern im Januar 1912 nach Chicago aus. Von ihrem Schicksal erfuhr ich erst im November 2019 dank eines DNA-Tests, als einer ihrer Urenkel unter meinen DNA-Treffer bei Ancestry auftauchte. Die ganze Geschichte gibt es HIER.

Die anderen Haas-Nachkommen blieben in Russland zurück und wurden im September 1941 zusammen mit der restlichen wolgadeutschen Bevölkerung nach Nordkasachstan und Sibirien deportiert. Während die meisten Familien aus Schöndorf sich in Nordkasachstan wiederfanden, ging es für meine Großeltern und ihre beiden älteren Kinder (die eineinhalbjährige Elvira starb wenige Tage vor der Deportation) weiter nach Sibirien.

(In den Deportationsdokumenten wird der Geburtsort meines Großvaters fälschlicherweise als Beauregard angegeben, dabei war es der Wohnort der Familie, da meine Großmutter von dort stammte.)

Kurz nach der Deportation wurde mein Großvater von seiner Frau und den Kindern getrennt und zusammen mit 16711 anderen Männern in das Arbeitslager Volzhlag transportiert, wo er als Volksfeind zu 10 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde, da man damals die gesamte wolgadeutsche Bevölkerung unter Generalverdacht gestellt hatte, mit Nazi-Deutschland zu kooperieren.

Erst viele Jahre später wurde mein Großvater rehabilitiert. Auf einer Webseite, die den Opfern politischen Terrors in der ehemaligen Sowjetunion gedenkt, gibt es einen Eintrag über ihn.

Auch meine Großmutter musste in einer Bäckerei bis zu 16 Stunden täglich Zwangsarbeit leisten. Einmal soll sie so müde gewesen sein, dass sie im Stehen eingeschlafen war und erst aufwachte, als sie sich im Schlaf an einen heißen Ofen angelehnt hatte.

Es grenzt an ein Wunder, dass meine Großeltern die vielen Jahren in den Arbeitslagern (auf Russisch „Trudarmija“ = Arbeitsarmee) überlebt hatten und wieder vereint wurden. Und obwohl die beiden schon in ihren Vierzigern waren, bekamen sie noch zwei Kinder – ihr Jüngstes ist meine Mutter.

Meine Großeltern mütterlicherseits mit ihren beiden jüngsten Kindern 1961 in Sibirien.(Das Mädchen auf dem Schoß ist meine Mutter.)

Von Sibirien aus zog meine Familie Ende der 1970er Jahre nach Almaty im Südosten Kasachstans unweit der Grenze zu China, wo bereits mein Onkel lebte, nachdem er sich in eine ortsansässige Tatarin und die Stadt verliebte.

Der älteste Sohn meiner Großeltern mütterlicherseits mit seiner tatarischen Ehefrau. Er war der erste aus der Familie, der Sibirien in den 1970er Richtung Almaty verließ. Nach und nach folgten ihm seine Eltern und Geschwister sowie mehrere Cousins und eine Cousine 1.Grades.

Aufgrund des deutlich milderen Klimas als in Sibirien, als auch der höheren Lebensqualität (Almaty stand damals kurz davor eine Millionenstadt zu werden) beschlossen auch andere Familienangehörige es ihm gleich zu tun und Sibirien hinter sich zu lassen, um einen Neuanfang in Almaty zu wagen. Als eine der ersten in unserer Familie kam ich, Konrads Ur-Ur-Ur-Ur-Urenkelin, dort 1981 zur Welt.

Almaty 1984. Die jüngeren Brüder meiner Großmutter mütterlicherseits wurden während des Zweiten Weltkrieges nach Perm in den Ural deportiert. 1984 besuchte einer der Neffen meiner Großmutter samt Ehefrau und beiden Kindern seine Cousins und Cousinen in Almaty. (Meine Eltern und ich sind hinten im Bild, meine Tante mit ihrem ukrainischen Ehemann und der jüngsten Tochter stehen von links in der ersten Reihe und der Antoni-Cousin mit seiner Familie in der ersten Reihe von rechts.)

Zwischen 1767 und 1941 heirateten die wolgadeutschen Siedler bevorzugt unter sich, jedoch spielte die religiöse Zugehörigkeit eine bedeutende Rolle. Die meisten der wolgadeutschen Kolonien wurden nach ihrer Konfession aufgeteilt. Evangelisch-luth. Siedler heirateten ebenso gern unter sich wie die Katholiken, für die ein katholischer Franzose oder Französin viel eher in Frage kam, als ein evangelisch-luth. Deutscher oder Deutsche. Ausnahmen hat es natürlich trotzdem gegeben, denn Romeo und Julias gab es auch am Wolgaufer.

Nach der Deportation 1941 spielte die Nationalität des Partners eine eher untergeordnete Rolle. Mein Onkel heiratete eine Tatarin, meine Tante einen Ukrainer und meine Mutter einen Nachkommen alteingesessener Sibirier, die dort bereits im 16. Jahrhundert ansiedelten.

Wolgadeutsche Wurzeln habe ich somit nur auf der Seite meiner Mutter. Die sibirischen Wurzeln meines Vaters finde ich ebenso interessant, nicht zuletzt aufgrund seines außergewöhnlich dunklen Aussehens für einen Russen. Dieses verdankt er seinem Vater, meinem Großvater väterlicherseits.

Meine Großeltern väterlicherseits mit den damals drei jüngsten Söhnen 1963 in Sibirien.
(Mein Vater ist der Junge in der Mitte.)

Dieser wiederum verdankt es seiner Mutter Domnika Filipovna Pimshina. Genaueres wissen wir leider nicht über sie, jedoch erscheint eine Verbindung zu den indigenen Völkern Sibiriens als sehr wahrscheinlich – alleine schon der sibirischen Geschichte wegen – auch wenn das aus ihrem Taufeintrag nicht ersichtlich ist. (Vielen herzlichen Dank an Arkady Klepinin!)

In Almaty lebten Angehörige vieler unterschiedlicher Kulturen – Kasachen, Tataren, Uiguren, Koreaner, Russen, Ukrainer, aschkenasische Juden, Wolga- und Schwarzmeerdeutsche – friedlich nebeneinander. Auch meine Schulklasse war bunt gemischt und trotzdem kann ich mich weder an Konflikte noch Integrationsprobleme erinnern.

Almaty 1990. Das Mädchen links mit den Blumen bin ich. Das Mädchen daneben sowie die beiden Jungs in der ersten Reihe waren Tataren, denn unsere Schule Nr. 64 befand sich direkt im Tatarskaya-Stadtteil! Unter meinen Mitschülern waren insgesamt nur zwei ethnische Kasachinnen – die beiden Mädchen in der dritten Reihe rechts und links. Das Mädchen rechts in der zweiten Reihe war eine Koreanerin. Das Mädchen ganz rechts in der ersten Reihe hieß Anna Teichert und hatte sowohl mütterlicherseits, als auch väterlicherseits deutsche Wurzeln. Meine restlichen Mitschüler in der Grundschule waren russischer und ukrainischer Herkunft.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wanderten viele Mitglieder unserer Familie nach Deutschland aus. Während der ersten drei Jahre wohnten wir im baden-württembergischen Maulbronn, weltbekannt für das Kloster Maulbronn, welches 1147 gegründet wurde (im gleichen Jahr wie die Stadt Moskau!) und wo 400 Jahre vor mir kein anderer als der weltberühmte Astronom Johannes Kepler zur Schule ging!

Mein Onkel mütterlicherseits ist übrigens der letzte männliche Vertreter unserer Haas-Linie; er hat zwar zwei adoptierte, jedoch keine biologischen Kinder. Es hat schon etwas Symbolisches, dass sich der Kreis nach etwas mehr als 250 Jahren wieder in Deutschland schließen wird. Ich finde es aber sehr schön zu wissen, dass es noch andere direkte männlichen Linien von Konrad Haas gibt, die heute in Bremen und in Chemnitz (und sogar in Kanada!) weitergeführt werden und von denen ich ohne die DNA-Genealogie niemals erfahren hätte!

Bei der Erstellung des Stammbaumes für meine Großmutter Elisabetha Antoni kam ich dank des Forums Wolgadeutsche von Anfang an schnell voran (mein besonderer Dank gilt hier vor allem Forumsmitglied Viktor2!) – fast alle ihre Linien konnten inzwischen mithilfe der Kirchenbücher und Volkszählungen bis zu den Erstsiedlern im Jahre 1767 zurückverfolgt werden. Ihre Vorfahren waren katholisch und stammten überwiegend aus Beauregard und Katharinenstadt, einzelne Familienzweige auch aus den Kolonien Ober-Monjour, Luzern und Zug an der Wolga.

Der Stammbaum meiner Großmutter mütterlicherseits und ihrer vier Geschwister, die mir namentlich bekannt waren. Bei meinen Nachforschungen im Archiv habe ich die Taufurkunden von zwei weiteren Geschwistern gefunden, die das Kindesalter nicht überlebt hatten.

Auch auf ihrer Seite gab es viele Familien, die um 1876 herum in die USA auswanderten. Besonders hervorzuheben ist hier die Siedlung Catharine in Ellis County, Kansas. (Auch die amerikanische Schauspielerin Rebecca Staab, auf die ich durch eine Serie bei Netflix aufmerksam wurde und die einst bei der Wahl zur Miss USA 1980 den 12. Platz belegte, hat ihre Wurzeln in Katharinenstadt. Vor kurzem stellte ich außerdem fest, dass sie im unveröffentlichten Fantastic Four Film aus dem Jahr 1994 die Unsichtbare Susan Storm-Richards spielte!)

Viele Nachkommen dieser Siedler interessieren sich heute ebenfalls für ihre wolgadeutschen Wurzeln und machten zu diesem Zweck einen DNA-Test, so dass sehr viele Linien meiner Großmutter heute auch durch die DNA bestätigt sind. Mehr dazu kann man HIER nachlesen.

Das ist das älteste Foto in unserem Familienarchiv, welches 1915 in der wolgadeutschen Kolonie Beauregard aufgenommen wurde. Das kleine Mädchen links ist meine Großmutter Elisabetha, die zwischen ihren Großeltern mütterlicherseits steht, meiner Ur-Urgroßmutter Sophia Müller (geb. 1862) und meinem Ur-Urgroßvater Johannes Arnhold (geb. 1863). Beide stammten aus alteingesessenen Beauregarder Familien und nicht nur die Nachfahren der Arnholds, sondern auch die der katholischen Müllers können ihren Stammbaum heute auf eine Siedlerfamilie zurückverfolgen.

Dank einem mtDNA-Test weiß ich, dass die mitochondriale Haplogruppe meiner Ur-Urgroßmutter Sophia T1a gewesen sein musste. Darüber hinaus gab es die erstaunliche Entdeckung, dass wir diese Haplogruppe mit einer der ersten Siedlerinnen von Montreal teilen! Den ganzen Artikel gibt es HIER.

Sophias Mutter war meine Ur-Ur-Urgroßmutter Rosina Louis aus der katholischen Kolonie Zug. Ihre Vorfahren väterlicherseits stammten aus Elsass-Lothringen, weshalb der Nachname auf die französische Weise ausgesprochen wurde. Im Russischen werden die Namen aber so geschrieben wie sie ausgesprochen werden, so dass dieser Nachname zunächst zu Lui wurde, mit der Zeit aber zu Luja und auch heute noch in Deutschland auf diese Weise falsch geschrieben wird. (Alle heute in Deutschland lebenden Russlanddeutschen mit dem Nachnamen Luja haben ihre Wurzeln in der Kolonie Zug (vor 1941) und können ihren Stammbaum auf eine einzige Louis-Familie aus Elsass-Lothringen zurückverfolgen.)

Der Eintrag über die Geburt und Taufe von Rosina Louis, der Tochter von Jakob Louis und Anna Maria Mockstadt.

Die meisten Originaldokumente befinden sich in den beiden Archiven in Engels und Saratow an der Wolga, welche ich im Mai 2018 besuchte. Es war ein ganz besonderes Gefühl in den alten Kirchenbüchern zu blättern und die Eintragungen über meine Vorfahren zu lesen.

Bis etwa Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Eintragungen in den Kirchenbüchern auf Latein. (Mein einst mit Ach und Krach bestandenes Latinum sollte sich doch noch als ein wenig nützlich erweisen.)

Der Eintrag über die Geburt und Taufe meiner 1828 in Katharinenstadt geborenen Ur-Ur-Urgroßmutter Eva Meis, der Tochter von Leonhard Meis und Anna Maria Nürnberger aus Ober-Monjour. (Alle Russlanddeutschen mit dem Nachnamen Nürnberger haben ihre Wurzeln in Ober-Monjour (vor 1941) und stammen von einer Siedlerfamilie ab. Auch die Meis-Familien aus Katharinenstadt haben einen gemeinsamen Ursprung.)

Evas Brüder und Cousins 1. Grades wanderten später in die USA aus. Und hier ist der Trauschein von Eva, der schon auf Russisch ausgestellt wurde, als sie 1849 ihren Adam Weltz ehelichte. (Jetzt kann ich sogar behaupten, dass ich meinen Stammbaum bis zu Adam und Eva zurückverfolgt habe 🙂 )

Die Spur einzelner Vorfahren meiner Großmutter konnte inzwischen sogar auch in Deutschland vor 1767 aufgenommen werden! Darunter sind die Antoni-Vorfahren aus Seligenstadt in Hessen, die Weltz-Vorfahren aus Coswig in Sachsen-Anhalt, die Staab-Vorfahren aus Bad Orb in Hessen und die Kuntzmann-Vorfahren aus Weinheim in Baden-Württemberg.

Bei den meisten Russlanddeutschen, die ich kenne, geht das Wissen über ihre Wurzeln jedoch nicht über ihre Großeltern hinaus. Oft wissen sie gar nicht, dass es so viele gut erhaltene Dokumente gibt oder wo man die Volkszählungen und Kirchenbücher findet. Einen Vorwurf möchte ich niemanden machen, denn vor 2014 traf dies auch auf mich zu. Neben der Erforschung meiner persönlichen Familiengeschichte ist es mir deshalb ein besonderes Anliegen auch andere Menschen für ihre wolgadeutschen Wurzeln zu begeistern und Informationen zur Verfügung stellen.

In diesem Bereich findet ihr:

Viel Erfolg bei eurer Suche und vor allem viel Spaß dabei!

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