EIN KURZER ÜBERBLICK ÜBER DIE WOLGADEUTSCHE GESCHICHTE

Am 4. Dezember 1762 und am 22. Juli 1763 erschienen zwei Manifeste von Katharina der Großen, in denen sie Ausländer nach Russland eingeladen und ihnen u.a. Religionsfreiheit, Steuerbefreiung, Selbstverwaltung und die Befreiung vom Militärdienst zugesichert hatte.

Der siebenjährige Krieg (1756-1763) ließ viele Europäer in bitterer Armut zurück und die Einladung nach Russland war ein verlockendes Angebot. Zudem wurden auch gezielt mehrere Werber in die Städte geschickt, um nach bereitwilligen Auswanderern zu suchen. Denn Katharina der Großen ging es nicht um die Wohltätigkeit, sondern in erster Linie darum die von Russland neu eroberten Gebiete zu besiedeln. Der bei weitem erfolgreichste aller Werber war damals Baron Ferdinand Caneau de Beauregard.

Zwischen 1763 und 1767 strömten Zehntausende Ausländer nach Russland. Die mit Abstand größte Gruppe bildeten Katharinas Landsleute – die Deutschen. Auch Franzosen (vor allem aus Elsass-Lothringen), Dänen, Schweden und andere Europäer machten sich in kleineren Gruppen auf den Weg.

Die Reise nach Russland erfolgte auf Staatskosten, einschließlich der Verpflegung. Ehepaare bekamen mehr Geld, was sicherlich mit ein Grund dafür war, dass in der Marienkirche in Büdingen (damals die Sammelstelle für die Auswanderer) zwischen Februar und Juli 1766 wie am Fließband geheiratet wurde – bis zu 13 Trauungen pro Tag!

In dieser Zeit wurden an beiden Seiten des Wolgaufers 104 Mutterkolonien gegründet. 1773 kam noch eine dazu – Pobochnoye/Nebendorf, die von Auswanderern aus der Grafschaft Isenburg-Büdingen gegründet wurde. Bis auf zwei gemischte Kolonien – Katharinenstadt und Beauregard – wurden alle anderen nach der Konfession ihrer Siedler aufgeteilt.

Das ist ein Auszug aus Prof. Dr. Igor Pleves vierbändigem Werk „Einwanderung in das Wolgagebiet 1764-1767“:

Die Neuankömmlinge erhielten Geld, ein Häuschen aus Holz, Pferde und Kühe, Werkzeug usw. Zu allen Personen und Ausgaben wurden damals sorgfältig Listen geführt. Neben Namen, Alter, Konfession und Herkunftsort wurde auch der Beruf des Auswanderers erfasst. (Was für ein Glücksfall für die heutigen Familienforscher!)

Zwischen 1774 und 1788 wurden vier katholische Kolonien durch Angriffe der Kirgisen zerstört.

Trotz der zahlreichen Entbehrungen, mit denen die erste Siedlergeneration zu kämpften hatte, wuchs die wolgadeutsche Bevölkerung stetig. Bald brauchten die Nachkommen mehr Land und zwischen 1847 und 1864 entstanden deshalb weitere 61 Tochterkolonien.

Durch einen Zufallsfund in einem Kirchenbuch erfuhr ich, dass auch eine größere Anzahl von Kriegsgefangenen nach dem Einfall Napoleons in Russland im Jahre 1812 in den wolgadeutschen Kolonien untergebracht wurde. Einer der ehemaligen Soldaten, Johann Davo, heiratete am 10. Februar 1814 eine entfernte Verwandte von mir, Margaretha Nürnberger (die Cousine meiner Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter Anna Maria Nürnberger). Im Trauschein steht hinter seinem Namen „Belli captivum“:

Am 4. Juni 1871 wurden den Kolonisten die von Katharina der Großen zugesicherten Privilegien von Alexander II wieder abgesprochen.

Ab 1871 begann deshalb die Auswanderung der wolgadeutschen Siedler nach Nord- und Südamerika, die bis etwa 1914 andauerte. Zu Beginn schickte man nur ein paar Männer dorthin, um die Sachlage zu prüfen und einen geeigneten Ort zu finden. In den USA sagten den Siedlern die ländlichen Gebiete in Kansas, Nebraska, North und South Dakota besonders zu. In Kanada die Provinzen Alberta, Manitoba und Saskatchewan. In Argentinien war es die Provinz de Entre Ríos nahe der Grenze zu Uruguay, aber auch Olavarría und später Villa Bellarester in der Nähe von Buenos Aires. Nach Südamerika wanderten bevorzugt Siedler aus den katholischen Kolonien aus, aber auch solche, die vorher auf Ellis Island abgewiesen wurden. Für eine Verweigerung der Einreise in die USA reichte damals z.B. schon eine Augenentzündung.

In den Jahren 1920/1921 kam es zu einer Hungerkatastrophe im Wolgagebiet, welcher ein großer Teil der Bevölkerung zum Opfer fiel. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Hilfe des International Committee for Russian Relief des Rotes Kreuzes angeführt von Fridtjof Nansen, die Hilfspakete der Amerikaner durch die American Relief Administration und American Friends Service Committee sowie des britischen Save the Children Fund und die Verschiffung mehrerer Hundert Tonnen von Hilfsgütern aus England.

1924 schien sich das Blatt für die Wolgadeutschen zunächst zum Guten zu wenden, als sie ihre eigene Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen bekamen, die vom 6. Januar 1924 bis zum 28. August 1941 existierte.

1932/1933 kam es zu einer weiteren Hungerkatastrophe in der ganzen Sowjetunion.

Am 28. August 1941 schlug die dunkelste Stunde der wolgadeutschen Geschichte, als die gesamte Bevölkerungsgruppe unter Generalverdacht gestellt wurde mit Nazi-Deutschland zu kooperieren und per Befehl die sofortige Umsiedlung aller Deutschen in die entlegensten Ecken Sibiriens und Kasachstans angeordnet wurde.

Auf einer Webseite, die den Opfern politischen Terrors in der Sowjetunion gedenkt, habe ich einen Eintrag über die Verurteilung meines Großvaters Viktor Haas nach dem berühmt-berüchtigten §58 gefunden. Ganz oben im ersten Eintrag geht es sogar um die Verurteilung eines vierjährigen Jungen. Sein Anklagepunkt: Deutsche Nationalität.

Die Umsiedlung fand vom 3.- 20.September 1941 statt. In Viehwaggons wurde die gesamte wolgadeutsche Bevölkerung in nur zweieinhalb Wochen umgesiedelt. Dabei hatten sie nur das Nötigste – auf den anstehenden Winter in Sibirien war niemand vorbereitet. Zum Packen hatten sie nur wenig Zeit gehabt, ihr ganzes Hab und Gut musste einfach so zurückgelassen werden. Manche schafften es noch ihre Nutztiere freizulassen, damit sie nicht in ihren Ställen verhungerten.

Tausende starben auf dem Transportweg und weitere Tausende überlebten den Wintereinbruch nicht. Männer im Alter zwischen 15 und 55 wurden an der Station von ihren Familien getrennt und in verschiedene Arbeitslager transportiert. Auch Frauen im Alter zwischen 16 und 45 mussten Zwangsarbeit verrichten. Es handelte sich dabei um jahrelange körperliche Schwerstarbeit unter mangelhaften Bedingungen wie Unterernährung und Kälte, die zahlreiche weitere Todesopfer forderte.

Hunderttausende Menschen erlitten in dieser Zeit ein furchtbares Schicksal. Von einem habe ich erst vor einigen Monaten tiefberührt in der Augustausgabe 2020 der russlanddeutschen Zeitschrift „Volk auf dem Weg“ gelesen. Alexander Schwabauer erzählt dort in „Eine Reise in die Unmenschlichkeit“ von der Deportation seiner hochschwangeren Tante Lea Schwabauer-Schmidt, bei der während der Zugfahrt nach Sibirien die Wehen einsetzten. Eine Militärkrankenschwester wurde ihr zur Hilfe gerufen, doch als Lea das Baby auf die Welt gebracht hatte, schnappte sich die Frau das Neugeborene und warf es aus dem Zug.

Am 13. September 1955 wurde beschlossen den Russlanddeutschen ihre Bürgerrechte zurück zu geben, indem man die sogenannte Kommandatur (Meldepflicht, Ausgangsbeschränkungen und sonstige Diskriminierung) aufhob, unter welche man sie gestellt hatte. Ab dem 1. Januar 1956 setzte man dieses Vorhaben in die Tat um. Einige Jahre später wurden die Russlanddeutschen als Opfer des politischen Terrors rehabilitiert.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 nutzte eine große Anzahl von Russlanddeutschen die Möglichkeit in die Heimat ihrer Vorfahren zurückzukehren. Ihr Anteil in der Bevölkerung wird heute mit etwa 2,5 Millionen Menschen angegeben.

Letztes Update erfolgte am 07. 03.2021

Wer mehr über die Gründe der Auswanderung der Deutschen nach Russland wissen möchte, dem würde ich gerne die beiden Bücher von Klaus-Peter Decker „Die Auswanderung von 1766/1766 aus der Grafschaft Ysenburg-Büdingen nach Russland“ und „Büdingen als Sammelplatz der Auswanderung an die Wolga 1766“ ans Herz legen, die man bei der Geschichtswerkstatt Büdingen bestellen kann.

Über die napoleonischen Soldaten in den Wolgakolonien habe ich vor ein paar Monaten ein tolles Buch von Viktor Totfaluschin „Земляки поневоле: пленные „12-года“ в Саратовском крае“ per Fernleihe in der Bayerischen Landesbibliothek ausgeliehen, welches es aber leider nur auf Russisch gibt.

WEBLINKS:

http://wolgadeutsche.net/chronik.htm

https://www.welt.de/kultur/history/article13571582/Wie-Stalin-die-deutsche-Sowjetrepublik-liquidierte.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Russlanddeutschen

https://static1.squarespace.com/static/54f886f6e4b0e9aec8275c0d/t/55243344e4b0d6f6b83a3a2f/1428435780569/La+inmigraci%C3%B3n+alemana+en+Argentina.pdf

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